Massnahmen statt Strafen

Soll man Jugendstraftäter*innen härter bestrafen? Jugendanwalt Ronald Lips und die Praktikantin Jessica Dolder vom Regionalgefängnis Thun sind dagegen.

Mehr Möglichkeiten für Massnahmen oder bessere Prävention. Um mehr über die Massnahmen und Strafen der Jugendstraftäter*innen zu lernen, besuchten wir den Jugendanwalt Ronald Lips und die Praktikantin, Jessica Dolder, aus dem Regionalgefängnis Thun. Herr Lips trafen wir in der Jugendanwaltschaft Bern, in einem Verhörraum. Jessica Dolder führte uns durch das Regionalgefängnis Thun.

Oft entstehen Jugendstraftaten, ohne dass die Jugendlichen wirklich nachdenken oder aus unkontrollierten Emotionen. Deshalb ist ein gutes schulisches, familiäres und kollegiales Umfeld wichtig für die Jugendlichen, damit sie keine Straftat begehen. Wer allerdings trotzdem etwas stiehlt, einen Straßenverkehrs Delikt begeht oder Drogen konsumiert und erwischt wird, wird von der Polizei angezeigt. Wenn eine jugendliche Person verdächtigt wird, eine Straftat begangen zu haben, nimmt die Polizei die Ermittlung auf. Sie klärt ab, was geschehen ist und gibt den Fall daraufhin an die Jugendanwaltschaft. Die Jugendanwältin oder der Jugendanwalt klärt anschliessend den Sachverhalt weiter ab und führt Einvernahmen mit den beteiligten Personen durch. In den Jugendanwaltschaften arbeiten Jugendanwälte und Sozialarbeiter immer eng miteinander. Während die Jugendanwältin bzw. der Jugendanwalt die Strafuntersuchung leitet, befasst sich die oder der Sozialarbeitende mehr mit den persönlichen Verhältnissen des Jugendlichen. Dafür führt sie oder er Gespräche mit der beschuldigten Person, den Eltern sowie mit weiteren Bezugspersonen. Anschliessend wird entschieden, ob die oder der Jugendliche eine erzieherische und/oder therapeutische Massnahme benötigt. «Wenn ein Symptom von Fehlentwicklung vorliegt, wird eine Massnahme angeordnet», sagte der Jugendanwalt Ronald Lips. Im Jugendstrafrecht haben die (Schutz-) Massnahmen eine höhere Priorität als die Strafen. Schutzmassnahmen treten allerdings nur in Kraft, wenn die oder der Jugendliche eine besondere erzieherische Betreuung oder therapeutische Behandlung braucht. Wenn die oder der Jugendliche bei der Straftat eine Grenze, die für dieses Alter nicht als Unterentwicklung eingestuft werden kann, überschreitet, wird eine Strafe in Betracht gezogen.

Jugendliche haben ein eigenes Gesetz, werden also nicht gleich bestraft wie Erwachsene. Bei den Jugendstrafen unterscheidet man zwischen einer Strafe und Massnahmen. Ab 10 Jahren ist man in der Schweiz strafmündig. Die Gefängnisstrafe und die Busse gelten erst ab 15 Jahren. Die Höchststrafe, welche man als Jugendlicher erhalten kann, liegt bei 4 Jahren Gefängnis oder 2'000 Franken Busse. Vollzogene Massnahmen können bis zum Alter von 25 Jahren gehen. «Jugendliche überschreiten Grenzen, weil sie neue Sachen sehen wollen. Sie merken oft gar nicht, dass es verboten ist», sagte Herr Lips. Folgende Strafen können je nach Straftat verhängt werden: Freiheitsentzug, Busse, Arbeitsleistung, Persönliche Leistung (Präventionskurse), Verweis und das Rayon. Beim Rayon werden Aufenthaltsverbote erteilt. Die Jugendlichen dürfen sich nicht mehr in bestimmten Gebieten, meistens dort, wo viele Kriminelle sind, aufhalten. Wenn ein Jugendlicher eine Straftat begeht, lässt man ihn zuerst frei, er muss aber als Strafe eine Arbeit verrichten. Die Jugendlichen bekommen also eine 2. Chance, um sich verbessern zu können. Erst wenn der Jugendliche in einem bestimmten Zeitraum wieder straffällig wird, wird ein Freiheitsentzug in Betracht gezogen. «Die Arbeitsleistung ist die sinnvollste Strafe», erwähnte der Jugendanwalt. Die Jugendlichen gehen dabei noch in die Schule oder zur Arbeit und arbeiten dann am Wochenende oder in den Ferien zum Beispiel in einer Gärtnerei. «Jugendliche sagen selbst, dass sie die Arbeitsleistung eine tolle Sache finden», sagte der Jugendanwalt. Die Präventionskurse dienen zur Aufklärung und finden in kleinen Gruppengesprächen statt. «Der Verweis», sagte uns Herr Lips, «sei nicht für viel». Massnahmen sollten den Jugendlichen schützen. Diese können stationär oder ambulant sein. Stationäre Massnahmen können eine neue Familie oder ein Aufenthalt in einem Heim sein. Zudem wird bei einem Heim zwischen geschlossen und offen unterschieden. Ambulante Massnahmen sind Therapien oder pädagogische Massnahmen. Man nimmt die Jugendlichen also nur im Extremfall aus den Familien und gibt sie in ein Heim. Im Regionalgefängnis Thun gibt es eine Jugendabteilung mit 10 Plätzen. 8 von 10 Plätzen sind momentan belegt. In der Jugendabteilung roch es nach Zigaretten und gekochtem Essen. Die Jugendlichen essen normalerweise mit den Betreuern zusammen an einem Tisch. Pro Tag können sie eine Stunde auf dem Dach spazieren gehen. Eine weitere Stunde können sie aus ihren Zellen und in eine andere Zelle, in den Gemeinschaftsraum oder in den Fitnessraum gehen. In diesem Gemeinschaftsraum können sie malen oder gamen. Es hat auch einen Computer, auf dem sie Bewerbungen schreiben können. Wenn man ins Gefängnis kommt, realisiert man dies erst nach 3 Tagen – dies nennt sich den Haftschock. «Die Straftäter, die ins Gefängnis kommen, haben sonst schon eine schlechte Psyche. Allerdings haben wir hier keinen Psychiater. Man fällt in ein Tief. Dies kann sich manchmal wieder einpendeln, manchmal bleibt es auch so», sagte die Praktikantin aus dem Gefängnis.

„Die Erfahrungen in meiner Jugend haben etwas in mir getötet.“ Christoph Weissgerber

Im Jugendalter wird man sehr von seinem Umfeld beeinflusst. Das familiäre, schulische oder berufliche Umfeld ist dabei entscheidend. Elterliche Unterstützung und Zuwendung ist notwendig für ein gesundes und gutes Erwachsen werden. Ein Risikofaktor sind auch soziale Notsituationen wie beengte Wohnverhältnisse oder dauerhafte Arbeitslosigkeit der Eltern. Dabei bekommt das Kind nicht die nötige Zuwendung und zudem wird so eine Beziehung erschwert. In vielen solchen Notständen haben die Kinder nur noch ein Elternteil, welches überfordert ist und ihnen nicht die nötige Zuwendung geben kann. Gewalt gegen Jugendliche, wie schlagen, kann sich auf das soziale Verhalten von Jugendlichen abfärben. „Die Erfahrungen in meiner Kindheit haben etwas in mir getötet, dass ich vielleicht nie werde, wiederbeleben können: eine Zärtlichkeit, ein grundsätzliches Vertrauen im Umgang mit anderen Menschen.“ erzählt Christoph Weissgerber aus dem Buch Mein Vaterland! Warum ich ein Neonazi war. Er hatte eine schwere Kindheit. Immer wieder wurde er von seinem Vater geschlagen oder auch psychisch verletzt. Diese Erlebnisse hatten später auch einen nicht unbedeutenden Einfluss in seinem zukünftigen, kriminellen Leben. Ein gutes kollegiales Umfeld kann vieles bewirken. Die nötige Zuwendung von Freunden kann einen wesentlichen Unterschied machen, in Bezug auf das spätere Leben. Aufzuwachsen in einem kriminellen Wohngebiet, kann Eindruck hinterlassen. „Wenn Jugendliche schon in einem schlechten Umfeld aufwachsen, ist es klar, dass sie mit kriminellem in Kontakt kommen,“ behauptet die Praktikantin Jessica Dolder. Der Einfluss der Medien auf jugendliche Straftäter ist umstritten. Der Jugendanwalt Herr Lips erklärt uns, dass die Medien keine Schuld tragen, sondern die Eltern. „Wenn Eltern ihren Kindern keine Aufmerksamkeit geben, kennt das Kind keine Grenzen. So ist ein Kind oder ein Jugendlicher durchgehend vor dem Fernseher oder dem Handy, das kann keinen guten Einfluss haben.“ sagt Herr Lips. Die Praktikantin Jessica Dolder ist anderer Meinung. „Social Media beeinflusst die Jugendlichen. Sie wollen Markenklamotten, wie ihr Vorbild. Wie können sie diese bekommen, wenn kein Geld da ist? “ teilt sie uns mit. Drogenkonsum kann auch ein Statussymbol sein unter Jugendlichen, welches veranlasst, dass sie auch anfangen Drogen zu konsumieren.

Massnahmen und Möglichkeiten

Der Jugendanwalt und die Praktikantin aus dem Gefängnis sagten beide, dass Jugendliche nicht härter bestraft werden sollten. „Ich bin mit dem Jugendgesetz zufrieden,“ meint Herr Lips, „Härtere Strafen schrecken nicht ab.“ Gewalttaten entstehen durch Emotionen. Diese Emotionen entwickeln sich oft aus einer schlechten psychischen Verfassung. Im Gefängnis verschlimmert sich die psychische Gesundheit, welche nicht behandelt werden kann, da es dort keine Psychiater gibt. Wenn man härter bestrafen würde, könnten die Jugendlichen nicht mehr resozialisiert werden. Viele im Gefängnis bereuen ihre Taten. Wenn sie in ihrer Zelle eingesperrt sind und nicht so viel machen können, denken sie sehr viel über ihr Verhalten nach. Man kann seinen Gedanken nicht entfliehen. „Wenn man Strafen erhöht, wird dann immer weiter erhöht. Es verläuft nach dem Gewöhnungseffekt“, sagte Herr Lips. Massnahmen finden beide eine gute Sache, weil diese sinnvoll sind, da die Jugendlichen eine Leistung erbringen müssen. Auch wenn man Jugendliche in ein Heim versetzt, ist dies sinnvoll, weil man sie aus dem schlechten Umfeld nimmt und sie sich dadurch verbessern können. So auch beim Fall Luise: Die 12- und 13-jährigen Mädchen haben ein gleichaltriges Mädchen erstochen. Die Tat war geplant. Da man in Deutschland allerdings erst ab 14 Jahren strafmündig ist, können die Mädchen nicht bestraft werden. Sie wurden aus den Familien genommen, für ein psychiatrisches Gutachten. Je nachdem, wie das psychiatrische Gutachten ausläuft, kommen die Kinder entweder in ein Heim oder eine Pflegefamilie oder wenn sie eine psychisch schlechte Verfassung haben in eine Psychiatrie. Da die Psychiatrieeinweisung keine Strafe ist, sondern eine Therapiemöglichkeit, werden die Kinder schon bald wieder freigelassen. Kinder erkennen am Anfang oft gar nicht, was sie getan haben und schieben die Schuld auf andere. Deshalb ist das Ziel der Therapie, dass die Beteiligten den Tatablauf wahrnehmen, Verantwortung für ihre Handlung übernehmen und vielleicht so etwas wie Schuldgefühle entwickeln.